Whistleblowing führt zu einem fundamentalen Spannungsverhältnis zwischen den rechtlichen Pflichten von Arbeitnehmern und den übergeordneten gesellschaftlichen Interessen. Einerseits sind Arbeitnehmer durch Treue- und Geheimhaltungspflichten an ihren Arbeitgeber gebunden, andererseits kann die Aufdeckung von Missständen, die gravierende gesellschaftliche Auswirkungen haben, ein unverzichtbares öffentliches Interesse darstellen. Diese Konflikte werfen die Frage auf, inwieweit die vertraglichen Pflichten des Arbeitnehmers zugunsten des öffentlichen Wohls zurückgestellt werden dürfen. Die Schweizer Rechtsprechung steht dabei vor der Herausforderung, in solchen Fällen eine klare Abwägung zwischen den individuellen Rechten der Arbeitnehmer und den ethischen sowie rechtlichen Anforderungen an die Offenlegung von Missständen zu treffen. In diesem Zusammenhang beleuchtet der vorliegende Artikel zunächst die rechtlichen Grundlagen dieses Spannungsverhältnisses, veranschaulicht anschliessend anhand relevanter Gerichtsurteile, wie diese Thematik in der Praxis gehandhabt wird, und beinhaltet eine diesbezügliche Empfehlung für Unternehmen.
Rechtliche Grundlagen
Das Obligationenrecht verpflichtet den Arbeitnehmer zur Treue- und Geheimhaltungspflicht gegenüber seinem Arbeitgeber (Art. 321a Abs. 1 OR). Diese Pflicht schliesst sowohl die Geheimhaltung von Fabrikations- als auch Geschäftsgeheimnissen ein, die dem Arbeitnehmer im Rahmen seiner Tätigkeit bekannt werden (Art. 321a Abs. 4 OR). Unabhängig davon, ob der Arbeitgeber explizit auf eine Geheimhaltung hinweist, umfasst die Pflicht alle Informationen, bei denen sich aus den Umständen ergibt, dass der Arbeitgeber deren Bekanntgabe nicht wünscht (GREBSKI LUKASZ, in: Kren Kostkiewicz Jolanta/Wolf Stephan/Amstutz Marc/Fankhauser Roland (Hrsg.), OR Kommentar, Kommentar zum Schweizerischen Obligationenrecht, 4. Aufl., Zürich 2023, Art. 321a N 10). Das berechtigte Interesse an der Geheimhaltung dieser Tatsachen wird vermutet (BGE 64 II 172).
Vor diesem Hintergrund ist der Arbeitnehmer im Grundsatz auch dazu verpflichtet, über straf- oder verwaltungsrechtliche Delikte des Arbeitgebers Stillschweigen zu bewahren – sofern nicht ein höheres Interesse dem entgegensteht (BGE 127 III 316). Doch auch wenn ein höheres Interesse vorliegt, z.B. wenn die rechtswidrige Tätigkeit des Arbeitgebers andere schädigt oder die Gefahr einer Schädigung besteht, kann der Arbeitnehmer aufgrund seiner Treue- und Geheimhaltungspflicht ein überwiegendes Interesse an der Offenlegung des Geheimnisses nur geltend machen, wenn er selbst den Verhältnismässigkeitsgrundsatz beachtet (BGE 127 III 316). Dieser Grundsatz verlangt vom Arbeitnehmer, dass er sich hinsichtlich der rechtswidrigen Tätigkeit zunächst an seinen Arbeitgeber und anschliessend an die zuständige Behörde wendet. Erst wenn auch die Behörde untätig bleibt, können die Umstände den Gang an die Öffentlichkeit rechtfertigen (BGE 127 III 310, S. 316 E. 5a.).
Beispiel 1: BGE 127 III 310, Nachtwächterin im Wohnheim
Ein erstes anschauliches Beispiel zur Handhabung dieses Spannungsverhältnises findet sich im Bundesgerichtsurteil BGE 127 III 310 vom 30. März 2001. Dieses Urteil behandelt den Fall einer Nachtwächterin eines Wohnheimes, die von Missständen in der Einrichtung erfuhr, die das Wohl der Bewohner gefährdete. Ohnehin stand das betreffende Wohnheim unter zunehmender Kritik, weshalb gegen dieses eine Untersuchung eingeleitet wurde. In der Folge konn-ten mehrere Missstände in der Einrichtung entdeckt werden. Ohne das Wissen des Wohn-heims beschloss Frau B. einen Film in der Einrichtung zu drehen, den sie dem Westschweizer Fernsehen vorlegen wollte. Der Film zeigte dabei unter anderem eine Inszenierung, bei der ein Fesselgurt auf einem Stuhl dargestellt wurde. Auch reichte Frau B. am 23. Februar 1998 gegen das Wohnheim eine Beschwerde beim Schweizerischen Gesundheitsdienst ein.
Am 24. Februar 1998 wurde in den Nachrichten des Westschweizer Fernsehens ein Bericht über das Wohnheim ausgestrahlt. An diesem trat Frau B. als Interviewte auf. Als Frau B. noch am selben Tag ihren Dienst antreten wollte, teilte ihr die Heimleiterin mit, dass sie fristlos entlassen werde.
Frau B. erhob daraufhin Klage vor dem Zivilgericht und verlangte die Zahlung von drei Monatsgehältern sowie eine Entschädigung für die ungerechtfertigte fristlose Entlassung. Das Bundesgericht wies jedoch die geltend gemachten Ansprüche aus den nachfolgenden Grün-den ab: In seiner Entscheidung stellte das Bundesgericht – wenn auch nicht abschliessend – fest, dass sich das Wohnheim nicht auf die Verschwiegenheitspflicht berufen könne, nachdem Frau B. ihn beim Schweizerischen Gesundheitsdienst gemeldet hatte. In anderen Worten wurde anerkannt, dass in diesem Fall ein öffentliches Interesse bestand, das die vertraglichen Pflichten der Arbeitnehmerin überwog, und der Gang von Frau B. zum Schweizerische Ge-sundheitsdienst rechtfertigte. Allerdings hielt das Bundesgericht das Vorgehen von Frau B. für unverhältnismässig. Sie habe nicht einmal vierundzwanzig Stunden abgewartet, bis der Schweizerische Gesundheitsdienst tätig wurde, bevor sie das Wohnheim öffentlich brandmarkte.
Beispiel 2: BGE 6B_305/2011, Angestellte des Sozialdepartements der Stadt Zürich
Ein weiteres Beispiel zur Handhabung des Spannungsfeldes im Zusammenhang mit Whistleblowing-Vorhaben findet sich im Bundesgerichtsurteil BGE 6B_305/2011 vom 12. Dezember 2011. Das Urteil betraf dabei die Angestellten X und Y des Sozialdepartements der Stadt Zürich. Zum Zweck der Bekämpfung des Missbrauchs im Bereich der Sozialhilfe und der Verbesserung der diesbezüglichen Kontrollen übergaben die Angestellten X und Y Ausdrucke von Gesprächsnotizen, Kontoauszügen und Monatsbudgets an einen Journalisten. In der Folge wurden die Ausdrucke aufbereitet und in Form von Zeitungsartikeln veröffentlicht.
Vor diesem Hintergrund sprach die Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich X und Y der Verletzung des Amtsgeheimnisses schuldig und bestrafte sie mit Geldstrafen. Dagegen führten X und Y Beschwerde beim Bundesgericht. Gestützt auf das Nachfolgende wies das Bundesgericht die Beschwerde jedoch ab.
Die Angestellten X und Y führten in ihrer Beschwerdebegründung aus, dass der Gang in die Öffentlichkeit der einzige mögliche Weg zur Erreichung ihres Zieles gewesen sei. Insbesondere hätten es ihnen die Umstände nicht erlaubt, den internen Weg vollständig abzuhandeln. Auch könne von ihnen nicht erwartet werden, dass sie vor dem Gang in die Öffentlichkeit auch noch alle möglichen externen Stellen angingen, zumal ohnehin nicht geregelt sei, welche externe Stelle verantwortlich sei und keine der möglichen externen Stellen explizit die Aufgabe gehabt habe, als Meldestelle für «Whistleblower» zu fungieren. Das Anrufen allfälliger externer Stellen wäre sodann auch mit beruflichen Risiken verbunden.
Dass es für die Angestellten X und Y unzumutbar gewesen ist, den internen Meldeweg abschliessend zu bestreiten, war für das Obergericht des Kantons Zürich als auch für das Bundesgericht verständlich. Belastend war jedoch die Tatsache, dass die Angestellten X und Y die Dienste keiner einzigen externen Anlaufstelle, wie beispielsweise des Rechtsdienstes, in Anspruch genommen hatten. Insofern stellte sich das Bundesgericht auf den Standpunkt, dass legale Handlungsalternativen für X und Y möglich gewesen wären. Ihre illegalen Handlungen seien entsprechend nicht zu rechtfertigen.
Fazit
Die zuvor dargestellten Ausführungen und Beispiele verdeutlichen, dass die Kluft zwischen den gegensätzlichen Interessen – den Treue- und Geheimhaltungspflichten des Arbeitnehmers einerseits und dem öffentlichen Interesse an der Aufdeckung von Missständen andererseits – durch eine klar strukturierte Informationskaskade überbrückt wird. Beim Whistleblowing ist der Arbeitnehmer somit zunächst verpflichtet, die internen Meldewege zu nutzen, bevor er sich an externe Behörden und schliesslich an die Öffentlichkeit wendet. Wird diese Reihenfolge nicht eingehalten, verletzt der Arbeitnehmer seine vertraglichen Pflichten. Da die internen Meldewege oft mit persönlichen Herausforderungen verbunden sind und eine öffentliche Bekanntmachung weitreichende negative Auswirkungen auf den Ruf eines Unternehmens haben kann, wird die Rolle externer Stellen als notwendiger Zwischenschritt besonders wichtig.
Wie bereits im zweiten vorerwähnten Beispiel angeschnitten, kann eine unklare Regelung zur Zuständigkeit externer Stellen zu Unsicherheit führen und Arbeitnehmer dazu veranlassen, voreilig an die Öffentlichkeit zu treten. Eine klare und präzise Festlegung der externen Anlaufstellen hilft nicht nur den Arbeitnehmern, ihre Anliegen angemessen vorzutragen, sondern schützt auch Arbeitgeber vor schwerwiegenden Reputationsschäden.
Falls Sie erwägen, eine externe Anlaufstelle für Whistleblowing in Ihrem Unternehmen zu etablieren, stehen wir Ihnen gerne zur Seite.
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