Im Strafrecht gibt es eine Vielzahl von Verfahrensgarantien, einige davon sind direkter Ausfluss der Bundesverfassung (BV). So garantiert Art. 29 Abs. 1 BV jeder Person den Anspruch auf „gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist“. In diesem Zusammenhang ist in Art. 5 der schweizerischen Strafprozessordnung (StPO) der sogenannte Beschleunigungsgrundsatz festgeschrieben. Art. 32 Abs. 1 BV hält fest, dass jede Person „bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig“ gilt. Diese zentrale Vorschrift wurde mit Artikel 10 Abs. 3 in die StPO aufgenommen. Aus diesem Verfahrensgrundsatz leitet sich auch der Grundsatz in dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten, ab.
Der Grundsatz in dubio pro reo, der sich nur auf die Tatsachenfeststellung, nicht aber auf eine für den Angeklagten günstigere Auslegung des materiellen Strafrechts bezieht, gilt nicht nur für Gerichte, sondern auch für die Verwaltungsbehörden oder die Staatsanwaltschaft, wenn diese im Rahmen eines Strafbefehls zu urteilen haben. In ihrer gegensätzlichen Rolle als Anklägerin aber hat sich die Staatsanwaltschaft vielmehr an den Grundsatz in dubio pro duriore, im Zweifel für das Härtere, zu halten und ein Verfahren nicht einzustellen, sondern Anklage zu erheben.
So hat sich die Bundesanwaltschaft auch in einem kürzlich vor dem Bundesstrafgericht beurteilten Fall für „das Härtere“ entschieden und die Beschuldigten nach rund zehn Jahren Untersuchung vor dem Bundesstrafgericht angeklagt. Bis das Bundesstrafgericht die Beschuldigten in seinem Entscheid von Anfang Dezember 2018 freisprach, vergingen seit Verfahrenseröffnung insgesamt elf Jahre und vier Monate (Schauffhauser Nachrichten vom 14. Dezember 2018, Luzerner Zeitung vom 4. Dezember 2018).
Aus Sicht der Verteidigung wurde das Verfahren über Jahre verschleppt; die Untersuchungsmassnahmen – die Hauptbeschuldigte wurde 25 Mal an meistens ganztägigen Einvernahmen befragt; insgesamt wurden über 200 Personen einvernommen – drohten auszuufern. Nach Wahrnehmung der Verteidigung geschah während der Untersuchung während Monaten, teilweise gar Jahren, nichts. Schliesslich wurde, nachdem die Beschuldigten mehrfach Verfahrensverschleppung und Verletzung der eingangs genannten Grundsätze rügten und der Tages Anzeiger in seiner Ausgabe vom 22. Oktober 2016 ausführlich darüber berichtete (Tages Anzeiger vom 22. Oktober 2016), der zuständige Staatsanwalt des Bundes abberufen und ein ausserordentlicher Staatsanwalt übernahm die Verfahrensleitung.
Eine derart übermässig lange Verfahrensdauer stellt für sich bereits einen Verstoss gegen die Unschuldsvermutung dar (Daniel Jositsch, Tages Anzeiger vom 22. Oktober 2016, S. 1) und kann (muss) sich gemäss Rechtsprechung strafmindernd auswirken. Tatsächlich belastete die ewig lange Verfahrensdauer im erwähnten Verfahren besonders die Hauptbeschuldigte schwer. Zunächst fand in ihrem Wohnort eine regelrechte Schlammschlacht gegen sie statt. Auf Flugblättern wurde sie als Betrügerin verunglimpft, die Medien berichteten anfangs fast ununterbrochen über die Sache. Dies und die Belastung des jahrelangen Verfahrens belastete die Beschuldigte psychisch und gesundheitlich schwer. Hinzu kam ein immenser finanzieller und zeitlicher Einsatz für die Verteidigung, die Teilnahme an den zahlreichen Einvernahmen und die Aufarbeitung des Sachverhalts.
Mögliche Sanktionen für eine unverhältnismässige Verfahrensdauer sind die bereits erwähnte Strafreduktion, aber auch die Einstellung des Verfahrens oder eine finanzielle Entschädigung, eine Genugtuung.
Ein Genugtuungsanspruch wird von Amtes wegen geprüft und kann unabhängig von einer Entschädigung zugesprochen werden. Während sich die Entschädigungssumme auf angemessene Aufwendungen für die Ausübung der Verfahrensrechte (z.B. Rechtsanwaltshonorare) oder wirtschaftliche Einbussen aufgrund einer notwendigen Beteiligung an einem Strafverfahren bezieht, setzt die Genugtuung bei den über die wirtschaftlichen Schäden hinausgehenden Verletzungen, den Persönlichkeitsverletzungen, an. Gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO ist eine solche Verletzung „insbesondere bei Freiheitsentzug“ gegeben, wobei der Freiheitsentzug ungerechtfertigt, nicht aber rechtswidrig, gewesen sein muss. Weitere persönlichkeitsverletzende Gründe, die eine Genugtuung rechtfertigen sind z.B. der Öffentlichkeit bekannt gewordene Hausdurchsuchungen, eine überlange Verfahrensdauer oder eine breitgefächerte Berichterstattung in den Medien.
Im erwähnten Fall traf alles zu. Aufgrund der übermässig langen Verfahrensdauer lag eine krasse Verletzung des Beschleunigungsgebots vor, was auch die Bundesanwaltschaft anerkannte. Diese führte in der gleichen Angelegenheit auch gegen weitere Beschuldigte Strafuntersuchungen, welche sie jedoch einstellte. Sie hatte den Betroffenen Genugtuungssummen zwischen CHF 2‘000.- und CHF 4‘000.- zugesprochen, die sie mit der überlangen Verfahrensdauer begründete, die eine besonders schwere Verletzung der persönlichen Verhältnisse der Beschuldigten darstelle, wie den Einstellungsverfügungen zu entnehmen war. Die Bundesanwaltschaft sprach den Betroffenen daher teilweise eine „eher ausserordentlich grosszügig bemessene Genugtuung“ zu, wie sie in den Verfügungen begründete.
Im eingangs erwähnten Fall fand – im Gegensatz zu den eingestellten Fällen – eine regelrechte Medienschlammschlacht statt, war die Untersuchung für die Beschuldigte deutlich aufwändiger und dauerte auch erheblich länger. Das Bundesstrafgericht sprach der Freigesprochenen trotzdem bloss eine Genugtuung von CHF 3‘500.- zu. Ein Betrag, der in Anbetracht der Odyssee, den die zu Unrecht Beschuldigte über sich ergehen lassen musste, doch äusserst bescheiden erscheint.
Bescheidene Genugtuungen sind in der Schweiz allerdings keine Seltenheit, im Gegenteil. In einem anderen Fall, der 2018 hohe Wellen schlug, sprach das Bezirksgericht Uster Dignitas-Gründer Ludwig A. Minelli nach dem Freispruch vom Vorwurf, in mehreren Fällen aus überwiegend eigennützigen Motiven krass überhöhte Beiträge für die Sterbehilfe verlangt zu haben, eine Genugtuung in der Höhe von CHF 500.- zu. Ebenfalls mit bloss CHF 500.- entschädigt wurden zwei Beschuldigte in einem Verfahren betreffend harter Pornografie, das sich insgesamt über fast sechs Jahre erstreckte und mit der Einstellung der Untersuchung endete. Im Entscheid 6B_534/2014 vom 25. September 2014 hielt das Bundesgericht fest, dass die Höhe der Genugtuung „für die Hausdurchsuchung und die mit der langen Verfahrensdauer verbundenen Unsicherheit“ angemessen sei. Doch es geht noch bescheidener. In seinem Entscheid vom 19. Juli 2013 (BGer 6B_109/2013) betreffend Gesuch um Entlassung aus der Verwahrung stellte das Bundesgericht fest, dass die Verfahrensdauer mit 30 Monaten übermässig lange sei und das Beschleunigungsgebot verletze. Nichtsdestotrotz sprach es dem Beschuldigten gar keine Genugtuung zu. Bereits mit der Feststellung der Verletzung im Urteilsdispositiv und dem Verzicht auf eine Kostenauflage würde dem Beschuldigten eine hinreichende Genugtuung für die erlittene Rechtsverletzung verschafft.
In Anbetracht der einschneidenden Wirkung eines Strafverfahrens auf einen Menschen und der teilweise hohen Strapazen, die ein Betroffener während der Untersuchung über sich ergehen lassen muss, besonders bei langer Verfahrensdauer, darf mit Fug und Recht die Frage gestellt werden, ob die den Betroffenen zugefügte Persönlichkeitsverletzung mit derart bescheidenen Genugtuungen wirklich anständig entschädigt werden oder die zugesprochenen Summen geradezu lächerlich und ein Affront sind. Schliesslich wurden die Verfahren in allen genannten Fällen entweder eingestellt oder die Beschuldigten wurden freigesprochen. Sie waren also keine Straftäter, sondern – um es plakativ auszudrücken – Opfer des Justizapparats. Dies teilweise über viele Jahre hinweg. Ohne für exorbitant hohe Genugtuungen, wie sie etwa in den Vereinigten Staaten zugesprochen werden, plädieren zu wollen, stellt sich die Frage, ob es vielleicht an der Zeit wäre, die psychischen Belastungen und erlittenen Einbussen im Privatleben von zu Unrecht Beschuldigten stärker zu gewichten und die Höhe der Genugtuungen in solchen Fälle zu überdenken.
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